status quo vadis?

ich laufe. versuche jeden tag zu laufen. beginne vor meiner haustüre in richtung traiansplatz. biege nach links, vorbei an der millenniumskirche. trete auf maulbeeren. rutsche. verscheuche tauben mit meinen schritten.  

laufe den boulevard des 3. august 1919 entlang. das datum, an dem rumänische truppen in temeswar einmarschierten und so die große rumänische vereinigung vollzogen.
diese straße einmal kanal gewesen. hier floss die bega. die neue synagoge in der fabrikstadt wurde direkt am wasser gebaut.
zwischen 1907 und 1910 wurde der kanal dann überdeckt. heute fahren straßenbahnen darüber.

foto: https://spiegelungen.net/architektonische-bruecke

ich laufe. vorbei an der neuen synagoge in der fabrikstadt. eingeweiht am 3. september 1899. an einem montagabend, einen tag vor beginn des rosch haschana-festes.
neues jahr. neue synagoge. neuer beginn.
für die gemeinde der status-quo-ante strömung des jüdischen glaubens. die sich ab 1877 wünschte ihre jüdische religion so auszuüben wie es vor dem großen schisma* üblich gewesen. ein mittelweg zwischen dem strengen ritus der orthodoxen und der neologen, die die traditionellen bräuche aufweichten.


bewundere dieses gebäude. wenn ich daran vorbeilaufe. täglich daran vorbeifahre.
die imposante fassade, das silberglänzende dach mit den türmen.
ihr stil eklektisch. neo-romanisch, neogotik, neorenaissance, secession und maurische elemente.

in getta neumanns auf den spuren des jüdischen temeswar eine begeisterte pressestimme aus der temeswarer zeitung nach der eröffnung des nach plänen des architekten lipót baumhorn gebauten gebäudes:

ein imposanter Bau, für 400 Sitze berechnet, mit prachtvoller Fassade, hoher Kuppel, zwei Türmen… (…) ein Tempel, der, bis er erbaut ist, zu den hervorragendsten Zierden Temesvárs zählen wird.

zeugin für eine vergangene zeit. für verlorene menschen.
vernichtete geschichten.

Solst mich gedenken, solst mich gedenken,
Wus es soll mit Dir pasieren,
in’ wie Gott wet mit Dir führen,
Solst mich gedenken, solst nuch mir benken,
Sai fin nuenten in sai fin weiten,
in die gitte schlechte zeiten,
Solst mich gedenken, solst nuch mir benken.

SIDY THAL


ich bin in deutschland aufgewachsen. dort sind solche gebäude aus dem stadtbild verschwunden. wunderschöne tempel wurden im november 1938 geplündert, geschändet. sind in flammen aufgegangen. für immer verloren.
in nürnberg erinnert eine steintafel an die einst an der pegnitz gelegene synagoge am hans-sachs-platz, die bereits vor den pogromen abgerissen wurde, weil sie das schöne deutsche Stadtbild der Stadt der Reichsparteitage störe.
synagogen in deutschland sind heute überwacht. weil immer wieder antisemiten versuchen sie anzuzünden oder menschen jüdischen glaubens anzugreifen.

die synagoge in der innenstadt | singagoga din cetate

die synagoge in der innenstadt temeswars ist ein offener ort. der begegnung und des kulturellen austauschs. offen für alle, nachdem sie aufwendig renoviert wurde.
wünsche der synagoge in der fabrikstadt dasselbe. ein aufblühen.
in architektonischem sinne. nicht im botanischen. wie gerade. denn
das einzige, das blüht, sind büsche, heranwachsende bäume, die aus ihrer fassade wachsen.
ihre treppen einsturzgefährdet. verschlossen ihre türen. besorgniserregend.
kurze zeit gab es die idee aus dem innenraum einen aufführungssaal zu machen. heute besteht für sie die akute gefahr eine ruine zu werden.
was wird?

*vgl. Getta Neumann Auf den Spuren des jüdischen Temeswar, S. 43:
„In den Reihen der Status-quo-ante Gemeinde, die sich wünschte, die jüdische Religion auszuüben, wie es vor dem großen Schisma (s.S. 21) üblich war…“
siehe S. 21: „Innerhalb der aschkenasischen Gemeinschaft erfolgte ebenfalls eine Spaltung im 19. Jahrhundert, eine Folge der Philosophie der Aufklärung. Auf dem Pester Kongress der jüdischen Gemeinschaft aus Ungarn und Siebenbürgen (Dezember 1868 bis Februar 1869) spaltete sich das aschkenasische Judentum in zwei Strömungen: die Orthodoxen und die Neologen. Ab 1877 stellt sich an deren Seite auch noch eine dritte Strömung, Status-quo-ante.“

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